von Sandro Danilo Spadini
Jedem Ende wohne auch ein Anfang inne, sagt man gern, wenn man nicht mehr weiterweiss oder einfach etwas von sich geben will, was irgendwie profund klingt. Praktisch wortwörtlich
genommen haben das Bestsellerautor Stephen King und Regisseur Mike Flanagan bei ihrer Produktion
«The Life of Chuck» – und zwar sowohl die Sache mit dem Nicht-mehr-weiter-Wissen und dem
Irgendwie-profund-Klingen als auch das mit dem Anfang und dem Ende. Eröffnet nämlich wird ihr Film mit dem dritten und letzten Akt. Und diesem wohnt nicht einfach das Ende inne, irgendein Ende –
sondern das Ende schlechthin, das Ende der Welt. Dieses hatte sich in den vergangenen vierzehn Monaten zwar angekündigt: Nordkalifornien etwa «hat sich abgelöst wie eine alte Tapete» und ist im
Meer verschwunden, es gab einen aktiven Vulkan in Deutschland, Erdbeben, Brände, Fisch- und Vogelsterben allerorten und als Folge davon Hungernöte, Seuchen und, ja, das auch, Massensuizide, das
Internet läuft seit acht Monaten nicht mehr richtig, und, Herrgott noch mal, sogar Pornhub ist down, wie ein verzagter Vater im Elterngespräch mit dem Kleinstadt-Lehrer Marty Anderson (Chiwetel
Ejiofor) jammert. Doch dass es jetzt wirklich vorbei sein soll, dass nun tatsächlich «the end of everything», das Ende von allem, unmittelbar bevorsteht – das ist halt trotzdem nicht zu fassen,
nicht fassbar. Und es stellen sich da natürlich einige Fragen: Wie konnte es nur so weit kommen? Warum wurden sämtliche Warnsignale ignoriert. Was kommt jetzt? Und vor allem: Wer zur Hölle ist
eigentlich Charles «Chuck» Krantz? Wer um alles in der Welt ist dieser biedere Typ mittleren Alters, dem auf Plakatwänden, im Radio, im Fernsehen, auf Graffiti und sogar mittels Himmelsschrift
«für 39 Jahre» gedankt wird? Wen Marty auch fragt, es hat niemand je etwas von diesem Chuck gehört. Die einen halten es für einen Scherz, andere spekulieren, es könnte sich um Performancekunst
handeln. «Unser letztes Meme», resümiert Marty achselzuckend – und dann bricht der Sternenhimmel über ihm ein.
Tänzelnd aus dem Trübsal
Wie eine Wurzelbehandlung im Dämmerzustand fühlen sich die ersten 40 Minuten von «The Life of Chuck» an: Angsterfüllte Menschen mit Tränen und Entsetzen in den Augen taumeln in Untergangsstimmung
durch eine Welt, die sich in den allerletzten Zügen windet. Es ist am Schluss kaum mehr auszuhalten, und entsprechend froh ist man, wenn es endlich geschafft ist – und Akt 2 beginnt. Was für ein
Kontrast hier! Die Stimme des gar leutseligen Erzählers (Nick Offerman) ist wohl noch so lakonisch wie ehedem, doch ansonsten: alles anders. Das Ende der Welt: ganz weit weg. Die Stimmung:
tipptopp – ausser vielleicht bei Janice Halliday (Annalise Basso), die gerade von ihrem Freund via Textnachricht abserviert worden ist und nun Unflätiges murmelnd nach Hause stapft. Ebenfalls
gerade unterwegs: ein Buchhalter namens Charles Krantz – Chuck! Sein grösstes (und letztes) Drama hat noch nicht begonnen; noch weiss er nicht, dass er in neun Monaten an einem Hirntumor sterben
wird; noch kann dieser Mann, 39-jährig, verheiratet, Vater eines pfiffigen Sohns, das Leben geniessen. Und warum auch nicht? Dieses Leben mag nicht ganz so viel bereitgehalten haben für ihn, wie
er sich das erhofft hatte, aber das ist okay so. Und sowieso scheint heute die Sonne, und es liegt Musik in der lauen Luft – verströmt von einer Strassenmusikerin (Taylor Gordon), die einen
unwiderstehlichen Rhythmus auf ihr Schlagzeug hämmert. Chuck kann nicht anders, als stehen zu bleiben; kann nicht anders, als genau hinzuhören; kann nicht anders, als sich dem Rhythmus mit Leib
und Seele hinzugeben und anfangen zu tanzen, zu tanzen wie ein junger Gott, zu tanzen, als ob die Welt nie schöner, nie farbiger, nie grossartiger gewesen wäre als heute. Und weil geteiltes Glück
das bessere Glück ist, nimmt er die hadernde Janice bei der Hand, auf dass das immer zahlreichere Publikum vollends in Entzücken verfällt ob dieser Impro-Vorstellung. Danach wird noch ein
bisschen geplaudert, und dann wars das auch schon mit dem zweiten Akt. War jetzt vielleicht nicht so viel Fleisch am Knochen, hat aber immerhin Spass gemacht – Spass, den man gebrauchen konnte
nach diesem Auftakt.
Bisweilen ein bisschen kindisch
Und dann also Akt 3: Nach der Apokalypse und dem Musical folgt nun – eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit ein wenig Geisterspuk in traditioneller Stephen-King-Manier garniert ist. Erzählt wird
vom jungen Chuck (Cody Flanagan, Benjamin Pajak und Jacob Tremblay) und wie er zum Tanzen gefunden hat. Auch hier wiederum: Leid und Unbill allüberall. Die Eltern samt der ungeborenen Schwester
kommen bei einem Autounfall um, als Chuck sieben ist. Auch die Grossmutter (Mia Sara) machts nicht lange, kollabiert im Supermarkt. Bleibt noch der Opa (Mark Hamill), ein sanfter Säufer mit einem
Faible für Zahlen. Von ihm hört Chuck fantastische Geschichten über Visionen und Vorhersehung, wenn er einen zu viel intus hat (oder besser: einen mehr als zu viel). Und dann ist auch er tot –
Herzkasper mit knapp 70. Geschildert ist dieser letzte Teil im Stil von «Back to the Future», von dessen Fünfziger-, nicht dem Achtziger-Teil. Dabei sind wir hier doch mitten in den Neunzigern
gelandet. Aber wollen wir mal nicht krämerisch sein. Das Ambiente ist schliesslich nicht das Problem (auch wenn es halt ziemlicher Unfug ist, dass um 1995 rum noch nie jemand etwas von Michael
Jacksons Moonwalk gehört und Chuck diesen quasi erfunden haben soll). Was «The Life of Chuck» vielmehr zum Verhängnis wird, ist die etwas simple, nachgerade kindliche und bisweilen kindische Art,
mit der sich King und der eigentlich im Horrorfach heimische Regisseur Mike Flanagan («Doctor Sleep», auch das eine King-Adaption) den letzten Dingen nähern – so wie es ein Robert Zemeckis oder
ein Steven Spielberg angehen würde. Die Freuden des Lebens und das Leben an sich zu feiern inmitten von Tod, Trauer und Tragödie, sich sehenden Auges für das Licht und gegen die Düsternis zu
entscheiden – daran ist natürlich nichts verkehrt, und es mag für manch einen die genau richtige Medizin sein gegen all den Graus und die Gräuel unserer verkommenen Zeit. Und ja, es ist fraglos
möglich, Verlust und Krankheit zu trotzen und nicht nur das Beste daraus zu machen, sondern sogar etwas richtig Gutes. Aber: So einfach, wie das hier rauf- und runtergesäuselt wird, ist das nun
wirklich nicht. Und daher dürfte sich der eine oder die andere gepeinigt fühlen ob des fidelen Tons, der immer wieder angeschlagen wird, und auch etwas unterfordert von dem recht einfach
gestrickten und gar durchsichtigen Versuch, das Universum und all seine Mysterien auf das zu kurze Leben dieses tanzenden Buchhalters herunterzubrechen. Dies umso mehr, als sich Flanagan ein
bisschen zu sehr anstrengt, ein poetisch-schwelgerische Plädoyer für Akzeptanz, Resilienz und Selbstliebe und eine nonchalant tiefschürfende Umarmung des Lebens in all seinen Facetten und
Schattierungen auf die sonnendurchflutete und sternenbehangene Leinwand zu zwirbeln – auch wenn man ihm zugutehalten muss, dass er mit Schauwerten nicht geizt und einige überaus hübsche
Kleinstadtgemälde aus dem Hut zaubert. Dass sich die drei in Ton und Setting vollkommen unterschiedlichen Teile zu einem Ganzen fügen, ist ebenso wenig von der Hand zu weisen (es geschieht das im
Übrigen zu einem guten Teil mittels der Strategie von David Lynchs Jahrhundertwerk «Mulholland Drive» – einfach bei Weitem nicht so ausgefuchst, wie es uns die Macher weismachen wollen). Mühselig
wird es derweil, wenn philosophiert wird – und philosophiert wird dummerweise doch ziemlich ausgiebig: über die Mysterien unseres Daseins und die grossen Fragen, über das Leben und den Tod, über
die Gesetze der Natur und auch unverhältnismässig ausgiebig über Mathematik. Die Summe von alledem freilich – die bleibt auf einem enttäuschend tiefen Niveau. Was lebensbejahend sein möchte, ist
meist bloss niedlich und zuckersüss. Und wiewohl der Film das Hauptziel erreicht und er das Geschehen raus aus der Dunkelheit zerrt – erhellend ist das alles nur sehr selten.